Archiv für den Monat: August 2010

Was würde Tucholsky zum „Nadja-Prozeß“ schreiben?

Wer heute den Auftrieb der versammelten „Journalisten“, also Typen mit Presseausweis, im Justizzentrum Darmstadt miterlebt hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich um einen Berufsstand handelt, der sich die Zeit nehmen sollte, einmal über sich selbst nachzudenken, also natürlich nicht der Berufsstand, sondern die, die ihm angehören. Sie scheint es nur in zwei Ausführungen zu geben, entweder hektisch und superwichtig herumtelefonierend oder in die Ecke gekauert und auf Laptops klappernd. Aber geschenkt. Nachdenklich stimmt vor allem der unfaßbare Aufwand, mit kilometerlangem Kabelsalat, unzähligen Kameras und Stativen und den unvermeidlichen und halsbrecherisch in die Fahrbahnen hineinragenden oder auf Gehwegen abgeparkten „Ü-Wagen“ (sagt man so?) mit monumentalen Satellitenschüsseln auf dem Dach und das alles in einer Anzahl, als gelte es über die Ankündigung des 3. Weltkrieges oder zumindest einen „G-8-Gipfel“ zu berichten. Weiterlesen

Die im Dunkeln sieht man nicht II

Rechtsanwältin Braun wundert sich über einen Mandanten, dem sie als Pflichtverteidigerin beigeordnet worden ist, der auf ihre Versuche, ihn zu erreichen, nicht reagiert. Auch auf die Anfrage des Gerichts, ob er einen Verteidiger benennen wolle, der ihm dann beigeordnet werde, wird er nicht regiert haben. Ob er zum Gerichtstermin kommen wird, ist danach zweifelhaft. Aber gerade das sind die Fälle, in denen die Verteidigung in besonderem Maße notwendig ist. Bei Leuten, die im Drogensumpf versunken sind, bei Wohnsitzlosen. Sie sind selbst nicht in der Lage, die Dinge zu ordnen und sich auf ein Strafverfahren vorzubereiten. Man sollte nicht zu streng mit ihnen sein – und darauf verzichten, sich öffentlich über sie zu wundern.

5400 zusätzliche Richter für’s LG Berlin!

Die NJW meldet heute, in Berlin fehlten am LG 5.400 (fünftausendvierhundert) Richter. Gäbe es sie, wäre das LG Berlin auch nicht so langsam. Angesichts von derzeit 350 Richtern am Landgericht Berlin finde ich die Forderung, diese um 5.400 Stellen zu ergänzen, dann doch etwas übertrieben. Hat sich hier der Richterbund gegen alle Widerstände durchgesetzt?

Entschädigung für überlange Verfahrensdauer; Richterbund: Die Länder sind schuld

Die FAZ berichtete gestern über das Gesetzesvorhaben der Bundesregierung zur Entschädigung für die überlange Dauer von Gerichtsverfahren. Der Richterbund begrüßte das Vorhaben. Habe aber in seiner Presseerklärung betont, Schuld an den Verzögerungen hätten die Länder, wegen der zu schlechten Ausstattung der Gerichte, nicht hingegen die Richter.
Die hoffentlich ungestörte Wahrnehmung auf der anderen Seite der Richterbank kann dies leider nicht bestätigen. Man wundert sich vielmehr über die reflexhafte Vorneverteidigung des Richterbundes, die an die aggressive Öffentlichkeitsarbeit von Lobbygruppen erinnert die weniger seriöse Interessen vertreten. Unangemessene Verzögerung ist ja auch nicht die Regel. Wenn sie aber vorliegt, liegt dies fast immer an bestimmten Richter- oder Staatsanwaltspersönlichkeiten, die die ihnen vergönnten Freiheiten und Privilegien ausnutzen. Alle wissen, daß es sie gibt, aber ihre Existenz wird geleugnet. Es ist wie bei des Kaisers neuen Kleidern.

Amtsgericht Schwäbisch Hall hat geantwortet

Ich hatte kürzlich darüber berichtet, daß das Amtsgericht Schwäbisch Hall über vier Monate nicht auf Anträge reagiert hatte, das Verfahren einzustellen oder zumindest den Betroffenen von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, obwohl absolute Verfolgungsverjährung eingetreten war.
Gestern kam die Terminsaufhebungsnachricht, einen Tag vor dem vorgesehenen Termin. Heute kam der Einstellungsbeschluss. Notwendige Auslagen zu Lasten des Betroffenen. Beschwerde. Wenn der Betroffene das Verfahrenshindernis nicht herbeigeführt hat, ist es unbillig, ihm auch diejenigen notwendigen Auslagen aufzubürden, die seit der Entstehung des Verfahrenshindernisses angefallen sind.

Gera, immer wieder Gera!

Über die Strafjustiz in Gera habe ich schon häufig geschrieben, nämlich am 12.8.09, 14.8.09, 1.9.09, 17.9.09, 18.9.09, 4.12.09, 19.1.10 und 12.5.10. Auch diesmal ist es leider nichts Gutes.
Mandantin war kurz vor und nach der „Wende“, als sie noch in der Nähe von Gera wohnte, von ihrem Vater sexuell mißbraucht worden. Anzeige erstattete sie in Heppenheim, sie war inzwischen umgezogen, erst 2009. Wegen des Tatortprinzips gab die StA Darmstadt das Verfahren an die StA Gera ab, wo es am 8.5.09 einging. Am 1.7.09 stellte die StA Gera die Taten vor dem 3.10.90 (zu Recht) wegen Verjährung ein, worüber es den Geschädigtenvertreter mit Posteingang bei diesem am 29.7.09 informierte. Am 22.1.10 leitete sie den Beiordnungsantrag des Geschädigtenvertreters vom 30.7.09 an die zuständige Strafkammer weiter, nachdem der Geschädigtenvertreter hieran, ebenso wie an sein Akteneinsichtsgesuch, am 21.12.09 unter Fristsetzung zum 15.01.10 erinnert hatte. Das Landgericht ordnete schon am 28.1.10 bei. Auf nochmalige Erinnerung gewährte die StA am 6.3.10 Akteneinsicht. Am 8.3.10 schrieb der Geschädigtenvertreter an die StA, aus der Akte ergebe sich, daß über die soeben dargestellten Vorgänge hinaus nichts geschehen sei und mahnte zumindest die Beschuldigtenvernehmung an. Für nochmalige Akteneinsicht habe er sich eine Frist bis zum1.6.10 notiert. Als sich nichts tat, erinnerte er am 1.6.10 und setzte Nachfrist bis zum 30.6.10. Mit Posteingang vom 1.7.10 stellte die StA das Verfahren insgesamt nach § 170 II StPO ein. Weiterlesen

Der Lektor der NJW ist gerade im Urlaub

Eigentlich wollte gerade ich den Spitzenaufsatz in der aktuellen NJW über „Compliance“ lesen.
Als aber bereits der dritte Satz so anfing: „Abgesehen davon, dass Compliance eine Vielzahl von Schnittstellen etwa zu innerbetrieblichen Guidelines in ihrem weltweiten Roll-Out … „, stellte ich mir den vollen Mund irgendeines Associated Partners vor, wie er ebenfalls diesen Text liest und ihn dabei leise andächtig mitspricht, und wurde augenblicklich von einer Leselähmung heimgesucht.  Aber ein gehöriges Maß an Aufgeblasenheit gehört halt heut‘ dazu! Da kann auch die gute alte Oma NJW nicht mehr nein sagen.

Geld vom Staat und möglichst wenig dafür tun

Heute Morgen einen ehemaligen Referendarkollegen getroffen, der jetzt Verwaltungsrichter ist. Überbesetzt sei das Verwaltungsgericht, man habe nicht sehr viel zu tun. In der Sozialgerichtsbarkeit sei es umgekehrt, da müßten ständig neue Stelle geschaffen werden, um der durch die Harz-IV-Reform entstanden Verfahrensflut Herr zu werden. Und das gerichtsgebührenfrei. Nö, keiner wolle von der Verwaltungsgerichtsbarkeit in die Sozialgerichtsbarkeit wechseln. Und gezwungen werden kann man ja nicht. Verzweifelt erwog das Justizministerium schon die Schließung ausgerechnet des größten Verwaltungsgerichts Hessens, nämlich Frankfurt.
Richter sind halt auch keine besseren Menschen, auch wenn manche diesen Eindruck erwecken wollen. Die überwiegenden Allgemeinwohlinteressen ihres Dienstherren oder des Volkes, in dessen Namen sie Recht sprechen, interessieren sie nicht, wenn es um die eigene Bequemlichkeit geht. Soll der Steuerzahler doch einen Haufen neuer Sozialrichter alimentieren, zusätzlich zu einem Haufen Verwaltungsrichter, die nicht gebraucht werden.
Was sagt der Richterbund dazu? Ich weiß es nicht. Sicher wird er sich auf geltendes Recht und die richterliche Unabhängigkeit berufen. Damit alles beim alten bleibe!